Ein Stopp-Signal für Polen und Ungarn - Von Rotger H. Kindermann, EJ Vizepraesident
27/11/2020
Ein
Stopp-Signal für Polen und Ungarn
von Rotger H. Kindermann
– EJ Vizepräsident
Nichts ist beim Brexit-Konflikt endgültig entschieden,
da türmen sich schon wieder Sturmwolken am Himmel der Europäischen Union auf.
Polen und Ungarn haben gegen die Verabschiedung des EU-Haushalts und der
Corona-Hilfen ihr Veto eingelegt. Sie wollen verhindern, dass die Auszahlung
von Finanzmitteln mit der Einhaltung von Rechtsstaatsprinzipien gekoppelt wird.
In Warschau und Budapest wird nun die Erzählung verbreitet, man wolle die
Länder „auf Linie bringen“. Sie würden einer „politischen institutionalisierten
Sklaverei“ unterworfen, so der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro. Diese
provozierenden Sprüche erinnern stark an Fakten-Verfälschungen nach der Trump-Methode.
Sind es doch Polen und Ungarn, die sich seit Jahren in kontinuierlichen
Schritten von demokratischen Grundnormen wie Gewaltenteilung,
Rechtsstaatlichkeit oder Pressefreiheit abwenden. Der Anfang November zwischen
Europaparlament und Rat ausgehandelte Kompromiss zum Rechtsstaatsmechanismus ist
ohnehin ein Minimalkonsens, den – bisher jedenfalls – kein EU-Mitglied
aufweichen will. Niemand könnte noch von einer Werte-Union sprechen, würde man
die Missachtung von Rechtsstaatlichkeit weiter dulden. Darüber hinaus muss
Brüssel ein Stopp-Signal setzen, denn Polen und Ungarn sind nicht allein auf
Abwege geraten. Auch in Tschechien, Bulgarien oder Slowenien stellen führende
Politiker die Pressefreiheit in Frage, bedrängen unabhängige Gerichte, nutzen
die Korruption als politisches Druckmittel. Die Erosion fundamentaler
EU-Standards schreitet voran.
Es ist ein ernsthaftes Problem, das die deutsche
Ratspräsidentschaft bis zum 10./11. Dezember, dem nächsten EU-Gipfel, zu lösen
hat. Viele Mitglieder brauchen dringend die Corona-Hilfen, um sie vor einem
wirtschaftlichen Absturz zu bewahren. Das politische Erpressungspotential ist
enorm, Orban und Morawiecki sind bereit, es zu nutzen. Sie scheinen tatsächlich
zu glauben, man könnte die EU fortgesetzt zum Narren halten; trotzig beharren
sie auf ihrem Standpunkt. Ob in dieser festgefahrenen Lage jemand entschlossen
ist, ihnen den Austritt aus der Gemeinschaft nahe zu legen? Es wäre an der
Zeit, aber damit ist eher nicht zu rechnen. Nicht in einer Ratspräsidentschaft
von Angela Merkel; Macron wäre diese Furchtlosigkeit schon eher zuzutrauen.
Wohl oder übel, wir sollten uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass die
Europäische Union sowohl wachsen als auch kleiner werden kann. Das Auf und Ab
politischer Entwicklungen lässt sich nirgendwo vermeiden. Die Empfehlung des
EU-Austritts darf in solchen Fällen kein Tabu sein.
Andererseits sollten wir die legitimen
Werteentscheidungen in Polen oder Ungarn einfach hinnehmen, sollten sie uns
auch noch so abwegig erscheinen. Wenn Ungarn aus christlicher Grundüberzeugung
eine Verfassungsänderung plant, mit der festgeschrieben wird, dass „die Mutter
eine Frau und der Vater ein Mann“ ist, dann wäre das ein Votum der gewählten
Parlamentsmehrheit, die Brüssel nicht zu kommentieren hat. Das gilt auch für ein
geplantes Abtreibungsverbot in Polen oder ähnliche - nach unserem Verständnis -
befremdliche Debatten, die hier immerhin die Wähler stark mobilisiert haben. So
gestaltet sich nun mal eine europäische Vielfalt, in der es gemeinsame Wertmaßstäbe
geben muss (z.B. Rechtsstaatlichkeit) und zugleich ein breites Wertespektrum,
das die nationalen Unterschiede, Traditionen und Eigenheiten widerspiegelt.