HM-HETZELMEDIA
Von : H.HETZEL, Den Haag
Datum : 7.3.2021
Corona-Pandemie
Interview mit Prof. Dr. Ulrike Guérot
´´Die Angst ist der Treiber des Geschehens´´
´´Es geht nur noch um das bloße Leben. Wir leben nicht mehr für die Dinge, für die es sich zu leben lohnt – Grundfeste der europäischen Zivilisation stehen damit auf dem Spiel´´
´´Herdenimmunität´´ oder ´´Durchimpfung´´ sind Vorboten einer buchstäblich tierischen Sprache, die mit der Souveränität mündiger Bürger nur noch wenig zu tun hat´´
Mit Ulrike Guérot sprach Helmut Hetzel
F: Frau Guérot, Sie haben auf dem Balkon Ihrer Wohnung in Berlin ein Banner aufgehängt. Darauf steht der Satz von Hannah Arendt: ´´Der Sinn von Politik ist Freiheit.´´ Warum haben Sie das getan?
A: Das ist ein stiller Protest gegen den öffentlichen Diskurs in der Pandemie. Der Begriff von Freiheit kommt darin kaum noch vor. Ich wollte mit dem Banner die Freiheit gleichsam wieder an die Luft lassen.
F: Wie reagieren Ihre Nachbarn darauf?
A: Das ist sehr unterschiedlich. Die meisten reagieren überhaupt nicht. Allein das ist ja schon merkwürdig, denn es offenbart die Haltung: Das interessiert mich nicht. Dann gibt es natürlich neugierige Passanten. Die bleiben stehen und fotografieren meinen Balkon mit dem Banner. Mir fällt auf, dass vor allem junge Leute heute sehr angepasst sind. Sie akzeptieren das politische Geschehen einfach. Ich hätte auch ein anderes berühmtes Zitat von Hannah Arendt auf das Banner setzen können:´´Keiner hat das Recht zu gehorchen.„
F: Seit einem Jahr werden wir mit der Corona-Pandemie konfrontiert. Wir alle leiden unter dem Virus, dem Lockdown. Wie hat diese Pandemie Sie persönlich, uns und unsere Gesellschaft verändert?
Konformitätsdruck
A: Ich führe ein sehr europäisches, gleichsam nomadisches Leben: ich bin in Berlin, Wien, Paris, also in Europa zuhause. Ich fühle mich darum in dieser Pandemie wie eine Marionette, die einmal zehn Fäden hatte, und der man jetzt neun Fäden abgeschnitten hat.
Mein Zuhause waren Europa und die Welt, die sind jetzt beide sozusagen zugesperrt. Man hat mir also mein „Zuhause“ genommen. Das ist schmerzhaft. Dazu gibt es nunmehr seit einem Jahr eine fast geschlossene, partiell ausgrenzende Meinungsdecke mit stets repetitiven Argumenten, gegen die kaum anzukommen ist. Manchmal fühle ich mich wie ein weich gekochtes Ei, das man geköpft hat und in dessen Hirn man mit dem Eierlöffel herumrührt. Einen derartigen Konformitätsdruck in der öffentlichen Meinung habe ich noch nicht erlebt.
Gesundheit und Freiheit
F: Gesundheit und Sicherheit stehen in der Pandemie-Bekämpfung vor der Freiheit. Wir zahlen alle einen hohen Preis. Wir können nicht mehr im Restaurant essen gehen, niemanden mehr umarmen, wir sind isoliert. Das Kontaktverbot ist zur Regel geworden.
Ist dieses Paradigma: Gesundheit vor Freiheit das richtige?
A: Wir erleben in der Pandemie offensichtlich eine Umdeutung von Werten, gleichsam eine Umkehr dessen, was wichtig ist. Die Werte der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wurden zu einem „R-Wert“ verkürzt, an dem jetzt der Zustand der Gesellschaft gemessen wird. Das ist schon ein zivilisatorischer Bruch, würde ich sagen. Die Politik beschäftigt sich fast ausschließlich mit Masken, Intensivbetten und Impfstoffen. Das ist eine kolossale Engführung des politischen Geschehens, dessen Sinn es doch eigentlich ist, mit Weitsicht eine Gesellschaft zu lenken. Politik muss Zukunft gestalten. Das findet derzeit kaum noch statt. Im Aristotelischen Sinn wird gerade der „Domus“, das Private (nämlich Gesundheit), zum Öffentlichen erklärt. Das kommt einem Verlust des Politischen schlechthin gleich.
Die Meta-Trends
F: Was sollte die Politik in dieser Corona-Pandemie leisten?
A: Sie sollte mehr auf die Meta-Trends achten, die durch die Pandemie-Bekämpfung entstehen. Ich beobachte da fünf Dinge: Eine allgemeine „Chinesierung“, also den wachsenden geoökonomischen und geostrategischen Einfluss Chinas in der Welt; eine „Hygienisierung“ der Gesellschaft, die – anthropologisch besehen – mit dem Verlust vieler anderer Eigenschaften des Menschen, z.B. des Homo Ludens – einhergeht; eine Re-Feudalisierung, weil die Pandemie-Maßnahmen, wie alle Daten zeigen, die sowieso schon großen sozialen Unterschiede weiter verfestigen; eine Digitalisierung der Gesellschaft, von der noch nicht ausgemacht ist, ob und wie gut sie wirklich für die Menschen ist; und schließlich eine Traumatisierung vor allem von Kindern und Jugendlichen, deren Spätfolgen wir noch nicht abschätzen können. Alle Meta-Trends sind de facto anti-aufklärerisch, sie gehen gegen die Werte der europäischen Kultur und Zivilisation. Beispiel: Vielen Jugendlichen wird in der Pandemie und durch den Lockdown und das Kontaktverbot die Erfahrung von Freundschaft, Tanzen, Party und Lebendigkeit, also der Selbstwirksamkeit genommen, die man gerade in der Pubertät braucht, um sich zu einem reifen Menschen zu entwickeln. Der stoische Philosoph Juvenal hat einmal gesagt: „Betrachte es als die größte Torheit, das nackte Leben über diejenigen Dinge zu stellen, für die es sich zu Leben lohnt.“ Das wäre ein Leitsatz der europäischen Geistesgeschichte. Wir machen derzeit aber genau das Gegenteil: Wir leben nicht mehr für die Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Ich finde schon, das ist ein Zivilisationsbruch.
Durch den Lockdown reduziert sich das bürgerliche Dasein auf das schlichte Menschsein, also auf die bloße Kreatur.
Diese aber ist kein politischer Begriff. Denn der Mensch, der durch den Verlust des öffentlichen Raums nicht mehr Bürger ist, bildet ein Begriffspaar mit dem Tier. Und genauso sprechen wir bereits von uns selbst: ´´Herdenimmunität´´, ´´Durchseuchung´´ oder ´´Durchimpfung´´ sind Vorboten einer buchstäblich tierischen Sprache, die mit der Souveränität mündiger Bürger nur noch wenig zu tun hat. Es ist höchste Zeit, nach einem Jahr Lockdown in Europa wieder über die politischen Ziele einer lebendigen Zivilisation nachzudenken, die über R-Werte, Maskenpflicht und Impfpassdiskussionen zur Wiederbelebung des Tourismus in Europa hinausgehen.
F: Es gab Grenzschließungen in Europa während der ersten Phase der Pandemie im Frühjahr letzten Jahres und jetzt wieder seitens der deutschen Regierung an der deutsch-tschechischen und der deutsch-österreichischen Grenze. Das verstößt klar gegen den Vertrag von Schengen, der den freien Personen- und Güterverkehr in den Schengen-Vertragsstaaten garantiert. Droht Europa, droht die EU, wegen der Corona-Pandemie wieder in die Kleinstaaterei zurück zu fallen?
Europäische Ideale über Bord
A: Die Pandemie-Krise zeigt, mit welcher Leichtigkeit wir die europäischen Ideale wieder über Bord werfen – und das alles aus purer Angst. Wir erleben eine nationale Regression. Das haben wir auch schon während der Flüchtlingskrise gesehen, in der Europa die Werte, die es so oft beschwört, im Grunde auch verraten hat. Das kann man in jedem Flüchtlingslager sehen.In der EU zelebrieren wir oft unsere eigene Selbstgerechtigkeit.
F: Wird Europa, wird die EU, aus der Corona-Krise gestärkt oder geschwächt hervorgehen?
A: Das ist schwer zu sagen. Ich jedenfalls wünsche mir, dass Europa gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Nach Jahren der europäischen Lethargie gilt: Europa richtig machen, jetzt oder nie. Diese Krise stellt die Frage: Leben oder sterben? Das gilt auch für die EU. So, wie die EU derzeit institutionell aufgestellt ist, kann sie wahrscheinlich nicht mehr lange weitermachen.
F: Wird es eine Rückkehr zur ´´alten Normalität„ geben, die vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie bestand?
A: Nein, das glaube ich nicht. Es wird nicht mehr so werden, wie es im Februar 2020 einmal war. Aber wir dürfen die Hoffnung, wir dürfen die europäische Utopie nicht aufgeben. Wir müssen ein Ziel haben, das wir erreichen wollen. Wir müssen die Grundwerte unserer europäischen Zivilisation bewahren und darum mehr denn je darüber nachdenken, wie wir ein wirklich demokratisches europäisches Gemeinwesen gestalten.
Zahlenfetischismus
F: Die Anti-Corona-Strategie ist sehr stark auf Zahlen zentriert. Kann man diesen Zahlen, die Forschungsinstitute wie etwa das Robert Koch Institut sie in Deutschland täglich liefern, überhaupt vertrauen?
A: Der aktuelle Zahlen-Fetischismus aus Fallzahlen, Inzidenzen oder R-Werten ist tatsächlich recht eindimensional, und, solange es keine verlässlichen Kohorten-Studien gibt, auch recht willkürlich. Außerdem lässt sich gesellschaftliches Geschehen nicht mit epidemiologischen Simulationen berechnen. In der Pandemie wurde Politik oft mit Moral verwechselt und die Zahlen waren das Instrument, diese Moral durchzusetzen. Solidarität das Wort der Stunde. Die Frage ist aber, ob es eher eine Scheinsolidarität war, hinter der die eigene Angst vor dem Virus versteckt wurde. Zumindest zu Beginn des ersten Lockdowns war die Angst der eigentliche Treiber des Geschehens in dieser Corona-Pandemie. Inzwischen ändert sich das, auch weil die Leute ihre eigenen Erfahrungen mit den Statistiken aus dem Fernsehen abgleichen und offenbar zu einer anderen persönlichen Risikoabschätzung kommen. Deswegen wird derzeit der Ruf nach Öffnung allerorten so laut.
F: Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person:
Ulrike Guérot (1964) ist Politikwissenschaftlerin und Publizistin. Sie ist Professorin am Departement Europapolitik und Demokratieforschung (DED) an der Donau-Universität Krems in Österreich, das sie leitet. Sie ist Gründerin des European Democracy Lab (EuDemLab) in Berlin. Hauptforschungsgebiet: Die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses. Ihre Vision: Eine Europäische Republik. Nun, in der Corona-Pandemie, streitet Ulrike Guérot engagiert für Freiheit und Grundrechte, die durch Corona-Notstandsgesetze in vielen Ländern immer weiter eingeschränkt werden.
Für ihren langjährigen Einsatz in der Forschung um die Weiterentwicklung der Europäischen Idee wurde Professorin Ulrike Guérot mit dem „European of the Year“-Award ausgezeichnet. Der Preis wurde am 10. Dezember 2020 von der NGO europe:united im Rahmen einer Online-Veranstaltung verliehen.
Links:
www.europeandemocracylab.org
/ Textende / Copyright © by HELMUT HETZEL / Den Haag